Marzahn Nord-West - und damit auch das Schorfheideviertel - gehört seit 2002 zu den Stadtumbaugebieten in Berlin. Infolge der Stadtumbaumaßnahmen befürchteten die Bewohner des Quartiers zunächst einschneidende Veränderungen für ihr Leben. Die Unklarheit über die Zukunft des Quartiers und die Sorge um den drohenden Abriss prägten daher die Stimmung. Die möglichen Konsequenzen für den Einzelnen reichten vom Verlust der eigenen Wohnung und damit einem Stück Heimat bis hin zur Furcht, zukünftig in einem Stadtteil zu leben, dem eine ungewisse Zukunft bevorsteht, mit denkbaren Folgen von Verwahrlosung bis zu steigender Kriminalität.
Vor dem Teilrückbau © gruppe F
Kahles Wohnumfeld vor der Umgestaltung © gruppe F
Ausgangslage im Schorfheideviertel © gruppe F
Vor diesem Hintergrund war es geboten, die Menschen vor Ort in die Planungen zur Zukunft ihres Schorfheideviertels intensiv einzubeziehen. In einem vom Bezirk Marzahn-Hellersdorf, dem Quartiersmanagement und der degewo AG initiierten und von gruppe F Landschaftsarchitekten und TS Redaktion durchgeführten, umfangreichen Beteiligungsverfahren nach der so genannten Charrette-Methode wurden daraufhin mehr als 200 interessierte Bürger und Anwohner, sowohl Erwachsene wie auch Kinder und Jugendliche sowie zahlreiche Initiativen und Institutionen in die Planungen zur Umgestaltung des Schorfheideviertels eingebunden. Zusätzlich wurde lokales mit externem Wissen verknüpft. Es wurden so genannte Ideengeneratoren einbezogen, junge Landschaftsarchitekten, Architekten, Soziologen und Geographen. Sie befragten die Bewohner nach ihren Vorstellungen, entwickelten daraus Ideen und visualisierten diese umgehend. Die offene Atmosphäre und das Wissen, ein gemeinsames Ergebnis öffentlich präsentieren zu wollen, motivierten die Beteiligten, ihre Interessen auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Im Charrette-Verfahren ist schließlich eine Lösungsidee erarbeitet worden, die Modellcharakter für die Stadtentwicklung in schrumpfenden Bereichen hat. Gemeinsam wurden die Qualitäten dieses gut erschlossenen Stadtviertels herausgearbeitet. An erster Stelle stand die naturnahe und ruhige Wohnlage. Von den Bewohnern des Quartiers kam die Idee: „Wir holen die Schorfheide nach Marzahn-Nord-West“.
Wünsche für das Schorfheideviertel © gruppe F
Vor-Ort-Büro © gruppe F
Bei der Prüfung dieser Idee wurden überraschend viele Übereinstimmungen zwischen den gewünschten Qualitäten für das Schorfheideviertel und den bekannten Qualitäten der Schorfheide festgestellt. Deshalb wurde die Schorfheide zum Leitbild erklärt. Gleichzeitig sollte ein identitätsstiftender Freiraum entstehen, der das Schorfheideviertel in Marzahn Nord-West unverwechselbar macht. Charakteristische Merkmale der Schorfheide wie die bewegte Landschaft, Gräser und Kiefern wurden übernommen und zu Gestaltelementen des Entwurfs gemacht. Die Bewohner wünschten sich auch Garagen, die nun in Form von so genannten Multifunktionsboxen (kurz MuFuBoxen), angeordnet wie eine Schafherde in der Schorfheide, auf Teilen der Rückbauflächen platziert werden. Durch das Charrette-Verfahren konnte die Ideenfindung für die zukünftige Nutzung der Rückbauflächen mit einer Bewohnerbeteiligung und der Aktivierung von bürgerschaftlichem Engagement verbunden werden. Durch die kommunikative Atmosphäre und die Stärkung der Identifikation mit dem Quartier kam es in der Folge zu einem intensiven Austausch der Bewohner untereinander. Kontakte wurden geknüpft und nachbarschaftliche Netzwerke gebildet, die auch über das Verfahren hinaus bestehen bleiben. Weiterführende Aktionen, wie der Kunstwettbewerb zu „Hirschen für das Schorfheideviertel“, die anschließende Vergabe von Hirschpatenschaften sowie die Vermietung der MuFuBoxen halten das Interesse der Bewohner an ihrem Quartier wach.
Charrette Mai 2007 © gruppe F
Aktion mit Kindern © gruppe F
Die bewegte Landschaft der Schorfheide ist mittlerweile auch in Berlin Marzahn erlebbar. Es wurden bis zu drei Meter hohe Erdhügel modelliert, Rasen wurde angesät. Hohe Gräser sowie am Ende mehr als 50 große Waldkiefern betonen die Hügelkuppen. Im Frühjahr sind zahlreiche blühende Tulpen ein besonderer Blickfang. Im zweiten Bauabschnitt entstanden weitere Hügel. Außerdem wurden 24 MuFuBoxen aufgestellt. Der besondere gestalterische Reiz liegt in deren Einbettung in die Hügellandschaft. Sie können von interessierten Anwohnern gemietet und als Garage, als Abstellraum für Geräte oder auch als Hobbyraum genutzt werden. Alle MuFuBoxen konnten schon nach kurzer Zeit vermietet werden, lange bevor mit deren Aufstellung begonnen wurde. Mit den MuFuBoxen kommt der Eigentümer, die degewo AG, dem Bedürfnis nach privat nutzbaren Flächen außerhalb der Wohnung nach. Gleichzeitig ermöglicht die Offenheit der Nutzungsmöglichkeiten intensivere nachbarschaftlichen Kontakte und stärkt das Miteinander im Quartier.
Modell © gruppe F
Eine Waldkiefer kommt im Schorfheideviertel an © gruppe F
Die MuFuBoxen kommen © gruppe F
Die Einbeziehung der Bürger in den Planungsprozess endete nicht mit der Charrette. Um die Anlehnung an die Landschaft der Schorfheide zu vervollständigen, sollten zusätzlich Hirschskulpturen das Schorfheideviertel beleben. Einen von der degewo AG dafür ausgelobten und gruppe F betreuten Wettbewerb hatte der Künstler Jörg Schlinke für sich entschieden. Mit seiner Idee setzte er die Idee der Anwohnerbeteiligung konsequent fort. Zunächst startete er einen Ideenaufruf für die Gestaltung der Hirsche. Die degewo AG stellte vor Ort eine Wohnung zur Verfügung, so dass der Künstler Gelegenheit hatte, viele Bewohner und Institutionen für sein Projekt zu begeistern. Kinder, Jugendliche, Familien und Senioren haben schließlich mehr als 50 Vorschläge zur Gestaltung eines Hirsches eingereicht. Davon wurden von einer Jury vier Hirsche zur Realisierung ausgewählt. Der Künstler hat dann gemeinsam mit den Ideengebern die Hirschskulpturen aus Beton gegossen. Verbunden war dies mit einem Ausflug in die Schorfheide. Bei Ferien auf dem Bauernhof gab es neben der künstlerischen Arbeit auch Gelegenheit, das Landleben zu genießen, vom Ausritt auf dem Pony bis zur Nachtwanderung – zu den röhrenden Hirschen der Schorfheide... Nach der Aufstellung der Hirschskulpturen in Marzahn wurden diese während eines Festes mit zahlreichen Gästen feierlich enthüllt. Um die Identifizierung der Bewohner mit den Hirschen (und ihrem Quartier) zu verstetigen, wurden Patenschaften an Anwohner und Schulklassen vergeben. Die Hirsche tragen damit nachhaltig zur Identifikation der Bürger mit ihrem Quartier bei.
Bau der Hirschskulpturen 2009 © gruppe F
Inspiration zum Bau der Hirschskulpturen © gruppe F
Ein Hirsch im Schorfheideviertel © Roger Freyer
Anfang 2006 zeigte sich zudem, dass ein Teilrückbau der Häuser wie im Pilotprojekt „Ahrensfelder Terrassen“ bei dieser Maßnahme nicht realisiert werden konnte. Bis Ende 2008 mussten daher im Rahmen des Projektes Stadtumbau Ost in Marzahn Nord-West insgesamt 1223 Wohnungen zurückgebaut werden, davon 262 im Schorfheideviertel.
Stadtumbaumaßnahmen mit Rückbau von 262 Wohnungen im Schorfheideviertel © gruppe F
Teilrückbau im Schorfheideviertel © gruppe F